I.
Lange hatte ich es mir schon vorgenommen und heute ist es soweit: Ich mache mich am 31. März auf, dem „Goethewanderweg“ zu folgen. Er führte den Geheimrat einst von Weimar nach Großkochberg zu Charlotte von Stein, seiner Muse. An die 1.600 Briefe sollen es sein, die von der berühmten Beziehung künden, die erst nach Goethes Italienreise abkühlte. Goethe will die 29 Kilometer zu Pferde in zweieinhalb Stunden geschafft haben (in meiner Science Fiction-Satire „Golem und Goethe“ fliegt er sogar in einem Raumschiff, allerdings auf einer anderen Strecke) – ich habe mich für zwei Etappen zu Fuß entschieden.
Frühmorgens fahre ich mit dem Bus nach Weimar. Es sind vier Grad Minus, noch ist es dunstig, doch ein strahlend blauer Himmel verspricht beste Wetterbedingungen.
Der Goethewanderweg beginnt am Wielandplatz. Der Schriftsteller Christoph Martin Wieland, ab 1773 Herausgeber des „Teutschen Merkur“, steht wie so viele Denker des klassischen Weimar heute ganz im Schatten von Goethe und Schiller, die quasi den Rang von Stadtheiligen innehaben.
Ich laufe los. Das weiße „G“ auf grünem Grund, das ich hier an einem Laternenmast erkenne, wird mich die nächsten Stunden begleiten, denn es ist das Zeichen des Goethewanderweges. Das gleichnamige Gymnasium am Weg ist völlig still – kein Wunder, schließlich sind noch Osterferien. Auch im angrenzenden Museum für Ur- und Frühgeschichte herrscht um diese Zeit kein Betrieb. Ich merke, dass es noch verdammt kalt ist und kaufe einen Reservesatz Batterien für meine Kamera.
Dann geht es weiter stadtauswärts. Wenige Meter entfernt, an eine Parallelstraße angrenzend, liegt der historische Friedhof mit der Fürstengruft und der fremdartigen russisch-orthodoxen Kirche, die wie ein kleiner Kreml wirkt. Friedhof und Gruft haben mich zu meiner Kurzgeschichte „Die Panne“ inspiriert, die im vergangenen Jahr in der Phantastik-Anthologie „Das Gewächshaus“ in der „Pandaimonion“-Reihe erschienen ist.
Durch ausgedehnte Gartenanlagen gelange ich an der Ortsrand und natürlich heißt in Weimar auch eine Kleingartenanlage „Friedrich-Schiller e.V.“ (und im Schillerjahr 2005 habe selbst ich mich berufen gefühlt und kürzlich einen Essay „Friedrich Schiller als Historiker“ veröffentlicht). Der „Bergweg“, der mich endgültig aus Weimar herausführt, macht seinem Namen alle Ehre. Oben angekommen, blicke ich auf die Stadt im diesigen Tal und sehe auf der anderen Seite den Turm von Buchenwald, der an den düstersten Teil von Weimars Geschichte mahnt.
In Richtung Vollersroda unterquere ich die Autobahn 4 und kämpfe mit meinem Teleskop-Wanderstock, der überhaupt nicht so will wie ich. Eine Gruppe Fahrradfahrer überholt mich.
Am Ortsausgang von Vollersroda liegt ein uraltes Gehöft mit Natursteinmauer – und direkt daneben prangen als völliger Stilbruch riesige, stählerne Starkstrommasten.
Der Goethewanderweg, der mich jetzt weiter nach Buchfahrt führen soll, wird zum Graspfad, von mächtigen Traktorenspuren durchzogen. Vor mir liegt das Ilmtal, aus dem immer noch Nebelschwaden aufsteigen. An einem Wagen warnt ein Schild „Vorsicht! Stechgefahr Bienen“. Ich durchquere einen Mischwald, gehe an der „Balsamine“ vorbei, die bis in die 1980er Jahre ein beliebtes Ausflugslokal der Weimarer war und heute nur noch eine bessere Ruine ist.
Eine steile Holztreppe führt mich hinunter zu den Ilmauen. In Buchfahrt bewundere ich die komplett mit Holz verkleidete Steinbrücke über die Ilm und die Mühle mit ihrem imposanten Mühlrad. Ich muss die Batterien meiner Kamera wechseln und – weil es eine moderne, hochentwickelte Digitalkamera eines namhaften Herstellers ist – gleich Datum und Uhrzeit neu einstellen.
Auf meinem Weg aus Buchfahrt sehe ich ein Straßenschild, das auf den wenig einladenden „Schindergraben“ hinweist, der mir wenigstens erspart bleibt. Doch wenn man in ein Tal hineinläuft, geht es natürlich auch wieder hinaus oder besser: hinauf. Nach Saalborn, dem nächsten Ort, muss ich mich deshalb ordentlich anstrengen, durch einen Buchenwald mit dem prosaischen Namen „Bärenfang“. Saalborns Dorfkirche gefällt mit ihren gotischen Fenster. Am Ortsrand blafft mich ein gewaltiger Rottweiler mit der tiefsten Stimme an, die ich je bei einem solchen Tier gehört habe. So ähnlich stelle ich mir den „Hund von Baskerville“ vor!
Weiter geht es und ich überquere die Bundesstraße 85. Rechts liegt Bad Berka, dort habe ich vor Jahren nach Abschluss der zehnten Klasse die „Erweiterte Oberschule“ besucht und das Abitur gemacht. Damals hieß die Schule noch „Geschwister Scholl“. Nach 1989 war der Name von Münchner Studenten, die den Widerstand gegen Hitler mit dem Leben bezahlt hatten, irgendwie anrüchig, fast schon kommunistisch – er wurde getilgt.
Ich biege in den „Dammbachsgrund“ ab, der einst „Reichsehrenhain“ mit Hindenburgs Grab werden sollte. Glücklicherweise ist diese äußerst fragwürdige Ehre dem schönen Waldgebiet erspart geblieben! Es geht jetzt richtig ins dichte Fichtengehölz, magische Lichtreflexe spielen zwischen den Zweigen der Bäume und meiner Tochter werde ich erzählen, dass ich an dieser Stelle durch einen richtigen Märchenwald gelaufen bin.
Als ich neben einer ausgedehnten Sandgrube mit Tagebaubetrieb den Waldrand erreiche, blicke ich ins Blankenhainer Tal. Noch fünfhundert Meter, ein letztes weißes „G“, dann bin ich zuhause. Das erste Pensum, ungefähr 18 Kilometer, sind geschafft.
II.
Am 2. April folgt die zweite Runde. Ich lasse mich von meiner Frau mit dem Auto nach Großkochberg bringen und unsere Tochter wundert sich, dass dort nur der Papa aussteigt und nicht mit zurück fahren will. Wandern? Ungläubig winkt sie mir aus dem Auto zu. „Zum Mittagessen bin ich da“, sage ich und hoffe, dass dieses Versprechen einhalten zu können. Es ist erneut ein kühler Morgen mit Temperaturen unter Null, doch das Wetter verspricht schön zu werden: abermals ist keine Wolke am blauen Himmel zu sehen.
In Großkochberg schaue ich mir zuerst das Schloss an. Charlotte von Stein war die Frau des damaligen Besitzers. Ich schmunzle, denn in dem Ort hat man das kleinste Cafe „Goethe Platz“ genannt.
Die Tour beginnt mit dem Aufstieg zum Luisenturm, der aus den Baumwipfeln herausragt. Ein Blick über die Schulter bietet mir weite Aussicht. Dort, fünf, sechs Kilometer hinter mir, liegt das Saaletal. Mein Weg wird jedoch immer steiler. „Wäre ich in der gleichen Richtung wie vorgestern von Blankenhain losgelaufen und hätte mich in Großkochberg abholen lassen, dann wäre ich diesen Berg heruntergelaufen ...“, grüble ich. Schluss damit! Hätte meine Großmutter Räder, dann wäre sie ein Autobus, soll Hannah Arendt gesagt haben.
Das zunehmende Ziehen in meinen Waden erinnert mich schlagartig daran, dass mir die fast zwanzig Kilometer der ersten Etappe noch in den Knochen liegen. Chemisch gesehen ist es die Anhäufung von Milchsäure und anderen Stoffwechselprodukten in meinen Beinmuskeln, die mich plagt. Im Volksmund nennt man das schlicht einen Muskelkater. Schließlich komme ich, wenn auch außer Atem, oben an.
Der Weg nach Neckeroda führt zunächst bergabwärts, dann durch Nadelwald. In meinem rechten Schuh stört ein kleiner Stein. Durch eine Allee von Apfelbäumen geht es an frisch gepflügten Feldern vorbei. Der intensive Geruch, der in der Luft liegt, zerstreut jeden Zweifel, was hier eingepflügt wurde ...
Neckeroda, das ich erreiche, war im Mittelalter ein „Färbedorf“, in dem der Färber-Waid angebaut wurde. Seine Blätter lieferten den begehrten blauen Farbstoff Indigo. Der Nachbau einer Waidmühle in der Dorfmitte erinnert noch heute daran.
Hinter Neckeroda windet sich der Weg wie eine weiße Schlange durch Wiesen und Felder. Nur der Kopf des Kirchturms von Hochdorf lugt über die Hügelkette, auf die ich zulaufe. Träge mit den Flügeln wackelnd erhebt sich eine Krähe aus dem Feld links von mir.
Genauso träge döst Hochdorf in der Vormittagssonne. Ein paar Hühner schauen gelangweilt zu, wie ich die Dorfkirche fotografiere. Plötzlich schießt aus einer schmalen Gasse ein Dreijähriger auf seinem knallroten Plastikauto hervor und ich kann gerade noch zur Seite springen. Seine Eltern, die in fünf Metern Abstand folgen, sind sichtlich stolz auf ihren Sprössling, weil der „den Onkel fast angefahren“ hat.
Nun trennen mich nur noch etwa vier Kilometer von meinem Ziel, verteilt auf eine Senke und eine weitere Hügelkette, den „Tannrodaer Sattel“. Der Weg wird steiniger. Als ich einen Schluck aus der Flasche nehme, huscht ein Schatten über mich hinweg. Ein großer Rotmilan segelt auf der Suche nach Beute durch die Luft. Zwei, drei Minuten beobachte ich ihn, wie er gekonnt im Aufwind manövriert, dann muss ich weiter.
Viele der Steine, die am Feldrand liegen, erinnern daran, dass die ganze Gegend hier vor Jahrmillionen den Grund eines Meeres bildete. Immer wieder werden Kalksteine mit maritimen Versteinerungen – meist Muscheln – ausgepflügt.
Die „Talblickhütte“, die ich jetzt erreiche, wird ihrem Namen gerecht. Vor mir liegt wieder das Blankenhainer Tal. Ich kreuze meinen Joggingweg – den ich in letzter Zeit wohl viel zu selten frequentiert habe –, laufe noch einige hundert Meter bis zu der Holzbank, an der ich hin und wieder an meinen Geschichten schreibe, und stehe schließlich vor unserer Haustür. Pünktlich zum Mittagessen.